Das vorliegende Buch ist einem Thema gewidmet, das bis in die letzten Jahrzehnte der Sowjetunion tabu war: Der Rolle der deutschen Fachkräfte bei der Entstehung und Entwicklung der russischen Konservatorien wie auch allgemein der russischen Musikkultur. Den Hintergrund bildet die Tatsache, dass die deutsch-russischen Beziehungen praktisch auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens sich schon über mehrere Jahrhunderte entwickelt haben. Diese Beziehungen wurden besonders Anfang des 18. Jahrhunderts intensiviert. Mit dem Ziel, die Entwicklung des russischen Reiches an die europäische Zivilisation zu binden, begann die Regierung des russischen Zaren Peter I. (1672–1725) mit der gezielten Anwerbung von ausländischen Fachkräften, vorwiegend Deutschen.
Durch ihre vielversprechenden „Manifeste“ erreichte die (deutschstämmige) russische Zarin Katharina II. (1729–1796), dass einige hunderttausend Deutsche nach Russland einwanderten. Dadurch wurde der Anteil von Deutschen in Russland bei der Entwicklung aller Lebensbereiche des russischen Staates spürbar und war von der Staatsführung auch hoch geschätzt.
Doch schon im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts verlieh die russische Zarenregierung ihrer Informationspolitik stark nationalistische Züge und minimierte die Bedeutung der ausländischen Komponente im öffentlichen Leben – vor allem in der Kultur und Kunst. Dabei war man besonders bemüht, die deutschen Fachkräfte und die deutsche Sprache aus dem öffentlichen Leben Russlands zu verbannen. Infolge zweier Weltkriege, in denen Russland und Deutschland gewissermaßen als Hauptgegner auftraten, wurden diese Tendenzen noch verstärkt. Auch in der Musikgeschichte Russlands fand dies seinen Niederschlag. Durch die Entfernung bzw. das Verschweigen von Namen in Russland tätiger deutscher Musikerpersönlichkeiten aus den Lexika und besonders der Musikgeschichtsschreibung sind in einigen Bereichen dieser Geschichte insofern Zerrbilder entstanden, als die Ergebnisse der Musikentwicklung Russlands, mit ihrer deutlich bemerkbaren Nähe zur deutschen Musikkultur, ohne Mitwirkung deutscher Fachkräfte gar nicht so hätten zustande kommen können.
In den letzten Jahren ist in der deutsch-russischen Musikforschung vieles getan worden, um diese Verzerrungen zu korrigieren. Neben dem vorläufig wichtigsten Ergebnis dieser Forschung, dem Buch „Musikgeschichte der Russlanddeutschen“ von Ernst Stöckl (Laumann-Verlag, Dülmen 1993) sind auch infolge mehrerer internationaler Symposien wichtige Publikationen zu diesem Thema herausgegeben worden. Besonders erfreulich erscheint die Tatsache, dass sich zunehmend auch russische Wissenschaftler mit der Erforschung der deutschen Komponente in der russischen Musikgeschichte befassen, die ihre Arbeit für die Vervollständigung der russischen Musikgeschichtsschreibung für dringend notwendig halten.
Denis Lomtev betreibt seine Forschungsarbeit seit Jahren in Bibliotheken und Archiven sowohl in Russland, vor allem in Moskau und St. Petersburg, als auch im westlichen Ausland. Da die wichtigsten Dokumente zu diesem Thema sich in russischen Archiven befinden und von ausländischen bzw. westlichen Forschern kaum eingesehen werden können, haben Lomtevs Entdeckungen an schriftlichen Dokumenten zum Leben und Wirken deutscher Fachkräfte im russischen Musikleben auch einen besonders hohen Wert. Als langjähriger Dozent an der Moskauer Musikfachschule und zuletzt am Moskauer Konservatorium hat Herr Lomtev auch eine gute Übersicht über die einschlägigen Materialien in den Bibliotheken und Archiven Moskaus, aber auch anderer russischer Städte. Sein Interesse an der deutschen Thematik in der russischen Musikkultur rührt nicht zuletzt auch daher, dass der Historiker und Musikwissenschaftler Jakob von Stählin (1710–1785), dem die Nachwelt wichtige Informationen aus dem Musikleben Russlands jener Zeit verdankt, sein Urahn ist.
Mit dem vorliegenden Buch trägt der Autor dazu bei, die Entstehung bzw. die Anfänge der Musikkultur in Russland zu erforschen und die Rolle der deutschen Fachkräfte darin zu beleuchten und dadurch auch eine empfindliche Lücke in der bisherigen Musikgeschichtsschreibung zu schließen.
Alexander Schwab, Köln