Harry Töws war auch an diesem Morgen im 6 Uhr aufgestanden. Er öffnete das Klappfenster, atmete mit Vergnügen die frische Luft ein und begann mit seinen gymnastischen übungen. Dann schabte er sich mit dem Rasiermesser den Bart ab, ging in den Hof zum Waschbecken, wusch sich Gesicht und Oberkörper mit kaltem Wasser, rieb sich mit dem Frottiertuch schnell ab und lief ins Zimmer. Nachdem er seinen mausgrauen Anzug angezogen hatte, schaute er in den Spiegel. Sein junges Gesicht war glatt und frisch. Die angegrauten Schläfen verliehen ihm eine gewisse Würde.
Gut gelaunt ging Harry zur Arbeit. Es war schönes sonniges Herbstwetter. Unterwegs traf er immer wieder festlich gekleidete Schulkinder. Einige trugen Sträuße aus Gartenblumen. Ob man mich heute auch mit einem Blumenstrauß erfreuen wird?, überlegte Harry. Es war das erste Mal, dass er in eine neue Schule mit der verhängnisvollen Nummer 13 ging, doch er war nicht abergläubisch. Ich werde dem Schicksal schon in die Speichen greifen, dachte er. Man hatte ihn in diese Schule versetzt, weil die frühere Deutschlehrerin, eine ältere Frau, in den Stunden oft geschlafen hatte, und daher die Kenntnisse der Schüler sehr spärlich waren.
Schon von weitem sah Töws das neue imposante Schulgebäude. Einige der großen Fenster waren weit geöffnet, und als er näher kam, steckten mehrere Schüler neugierig ihre Köpfe heraus und beobachteten ihn.
Als Harry die erste Stufe der breiten Schultreppe betrat, begann sein Herz heftig zu pochen. Langsam ging er weiter und versuchte sich zu beruhigen. In der Vorhalle begrüßten ihn freundlich der Schuldirektor und die Leiterin des Lehrteils.
Es begann der erste Schultag des Jahres 1940.

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Als Harry spät abends nach Hause kam, lag auf dem Küchentisch ein Gestellungsbefehl, wo es hieß, dass er am 25. Dezember 1941 in die Trudarmee einberufen wird. Das war in zwei Tagen. Er legte sich auf seinen Strohsack, deckte sich mit seinem Soldatenmantel zu und überlegte, was er mitnehmen sollte, etwas Wäsche, einige Bücher, die Armbanduhr, Dokumente und ein paar Kröten. Morgen würde er noch ein paar Groschen hinzubekommen.
Er erinnerte sich, dass sein Vater während des ersten Weltkrieges nicht an der Front war, sondern im Wald als Forstwart diente. Aber das hatte einen Grund – er war Mennonit. Jetzt waren andere Zeiten. Er hätte seine Heimat an der Front verteidigen können, aber das wurde ihm verwehrt.
Am Morgen bekam Harry sein Gehalt und ging zu Okssana ins Büfett. Harry gab ihr einen Brief, in dem er ihr über seine derzeitige Lage berichtete und versprach, sie abends zu besuchen.
Während sie das Abendbrot vorbereitete, spielte er Gitarre und dachte über die Vergangenheit nach. Es waren schöne Zeiten, aber es gab auch Dornen auf seinem Lebensweg. Wann wird er wohl wieder Gitarre spielen können, fragte er sich. Die Lage an der Front war sehr schwierig, ein Ende des Krieges nicht in Sicht. Die faschistischen Heere drangen immer weiter ins Land. Der Tag der Befreiung musste doch endlich kommen.
Okssana hatte Kartoffeln und Plinsen zubereitet.
„Solch ein lukullisches Mahl werde ich wohl nicht so bald wieder bekommen“, meinte Harry. „Du bist eine wahre Zauberin. Hast wohl eine Wünschelrute, oder?“
„Iß nur, und lobe mich nicht, sonst schwillt mir noch der Kamm. In dieser schweren Zeit schmeckt das einfachste Gericht. Mir geht es noch gut im Vergleich zu anderen Evakuierten. Es ist schwer anzusehen, wie sie sich durchschlagen müssen.“
Nach dem Essen saßen beide auf dem Bett und unterhielten sich.
Okssana ist kein unerfahrenes Nesthäkchen, schlussfolgerte Harry in Gedanken. Sie war zum Flachsen aufgelegt und begann ihn scherzhaft zu knuffen, war wie beschwipst, sehr temperamentvoll. Harry musste sich im Zaum halten, denn er hatte seine Lida nicht vergessen und wollte kein flüchtiges Abenteuer, obwohl ihm Okssana gut gefiel. Sie war ein fesches Mädchen und redselig. So manchen schönen Abend hatte er mit ihr verbracht.

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Harry war Klassenleiter der 8a. 35 Schüler hatte er unter seiner Obhut. Drei Schüler waren verzogene Burschen. Einer von ihnen war Jakob Schumlerow, der Sohn des Verwalters.
Jakob Schumlerow hatte durch belegte Brötchen und andere Leckerbissen eine Gruppe Jungen angelockt. Er brachte ihnen Hefte, Papier, Tinte, Farbstifte, Zigaretten und andere Sachen von zuhause, und sie verkauften das an ihre Mitschüler.
Harry bestellte Jakobs Vater in die Schule. Er berichtete Schumlerow von den Ausschreitungen seines Sohnes. Der Verwalter war sehr entrüstet. „Was ist das für eine Erziehung hier in der Schule?“, empörte er sich. „So ein großes Lehrerkollektiv ist nicht imstande meinen Jungen im Zaum zu halten.“
„Iwan Afanasjewitsch, Ihr Sohn ist ein Einzelkind und daher sehr verwöhnt. Jakob kennt in seinen Wünschen keine Schranken und Sie erlauben ihm alles.“
„Sie wissen, dass ich für die Erziehung meines Kindes sehr wenig Zeit habe. Sie müssen meinem Sohn mehr Aufmerksamkeit schenken.“
„Viele Eltern beklagen sich über den Zeitmangel. Aber für uns sind alle Kinder gleich, und wir tun unser Bestes, um sie gut zu erziehen. Aber ein Kind umzuerziehen, das ist eine sehr schwierige Sache. Ihr Sohn hat von Ihnen sehr schlechte Charakterzüge übernommen: das Schummeln und die Kleinkrämerei.“
„Was erlauben Sie sich da!“
„Sie wissen worauf ich hinaus will. Darüber habe ich zu meiner Zeit als Buchhalter genug geschrieben. Und nur Tichostupow muss dafür büßen.“
„Zum Teufel!“ Schumlerow schnellte hoch und ging.
Nach der Schule musste Harry zur Kommandantur gehen. Man traute ihm zu als Lehrer und Erzieher der jungen Generation zu arbeiteten. Wie lange würde das noch so weitergehen, dachte er, wie lange würde man ihn noch beschatten?